Die Gründe für eine Tätowierung sind so zahlreich, wie die Motive selbst. Oftmals stehen selbst hinter einfachsten Tattoos sehr beeindruckende und teils bewegende Geschichten. Viele halten diese Geschichten fest im Herzen und manche möchten sie mit anderen teilen. Hier haben wir eine Auswahl ungewöhnlicher Geschichten mit außergewöhnlichen Menschen und deren Erlebnissen.
Das Tattoo gegen die Suizidgedanken – Sandra hat sich ein sehr originelles Watercolor-Tattoo stechen lassen.
»Ich habe eine bipolare Störung und dadurch fast täglich Suizidgedanken. Obwohl ich sehr dankbar dafür bin, den Kampf gegen meine bösen Geister immer wieder zu gewinnen, so ist es doch ein sehr anstrengender und täglicher Kampf. Der Refrain aus dem Lied One more Light von der Band Linkin Park gehört aus mehreren Gründen zu meinen Lieblingssongs. Dort wird gefragt, wen es kümmern würde wenn ein weiteres Licht erlöschen würde, in einem Himmel von Millionen Sternen. Ich habe den Songtext auf ein Blatt Papier gedruckt und meine Freunde und Familienmitglieder haben gemeinsam darum geschrieben, dass es sie kümmert (I do). Meine Tätowiererin hat das dann schließlich mit ein wenig Watercolor zauberhaft umgesetzt und ich bin unglaublich glücklich mit meinem Tattoo.«
Die Erinnerung an Opa – Nur ein einziges kleines Tattoo, aber mit sehr tiefer Bedeutung.
»Ich habe nur dieses eine Tattoo. Es ist ein Replikat der Konzentrationslager-ID meines Großvaters. Opa war im zweiten Weltkrieg im Gefangenenlager Matthausen. Er überlebte die unglaublichen Schrecken des Krieges und lebte danach ein glückliches Leben bis zu seinem Tod im Alter von 96 Jahren. Gut ein Jahr nach dem Begräbnis ging ich mit einem alten Foto zu einem Tattoostudio. Ich erzählte der Tätowiererin vor Ort die Bedeutung der Zahlenkombination. Das Tattoo dauerte nur ein paar Minuten, vielleicht gerade einmal so lange, wie diesen Text hier zu tippen. Als ich aufstand und das Tattoo bezahlen wollte, erklärte mir die Tätowiererin: ‘In den 12 Jahren, seit ich das hier mache, ist das das wichtigste Tattoo gewesen, das ich gestochen habe. Das ist kostenlos.’«
Der väterliche Rat – Auch wenn er gegangen ist, so bleibt doch ein Teil von ihm.
»Im vergangenen Jahr wurde bei meinem Vater ein Hirntumor im Endstadium diagnostiziert. Man sagte ihm, er hätte wahrscheinlich nur noch ein paar Monate zu leben. Eines Tages malte er drei Symbole auf ein Blatt Papier und erklärte mir ihre Bedeutung: Sei offen für Veränderungen, bestimme selbst dein Schicksal und wo ein Wille ist, ist auch ein Weg. Bevor er ins Hospiz eingeliefert wurde ging ich mit ihm in ein Tattoostudio und wir ließen uns beide die Symbole stechen. Vor zwei Monaten ist mein Vater gestorben. Er ist gegangen, doch irgendwie ist ein Teil von ihm immer bei mir. Sein väterlicher Rat wird mich als Tattoo mein Leben lang begleiten.«
Ein Tattoo für die Rettung – Der Sohn des Geretteten bedankt sich mit einer Tätowierung bei der jungen Retterin.
Mary Skivers (33) ist Rettungssanitäterin in Hillingdon, einem Stadtteil im Westen von London. Seit über acht Jahren arbeitet sie bereits in ihrem Traumberuf und ist täglich im Einsatz auf englischen Strassen. Eine kleine Tätowierung erinnert sie stets an einen ganz speziellen Rettungseinsatz, der sich vor gut einem Jahr ereignete.
Mary und ihr Kollege waren wie gewohnt unterwegs, als sie von der Leitstelle ein Notruf erreichte. Sie fuhren zu einer Großbaustelle auf der sich ein schwerer Unfall ereignet hatte.
Pete Benning (54), Bauarbeiter aus Enfield, wäre beinahe getötet worden. Er stand versehentlich hinter einem großen Kipplader, der gerade seine tonnenschwere Steinladung ablud. Benning konnte sich zwar mit einem beherzten Sprung aus der unmittelbaren Gefahrenzone bringen, dennoch wurde er von zwei großen Felsbrocken getroffen. Einer traf sein Bein, der größere Brocken traf ihn mitten auf der Brust. Als Rettungssanitäterin Mary eintraf, war Bennig noch bei Bewusstsein, klagte jedoch über große Schmerzen vor allem im Brustbereich. Mary erkannte schnell, dass die Verletzungen lebensbedrohend waren. Sofort nach der Erstversorgung brachte sie ihn in die nächstgelegene Unfallklinik. Ihr schnelles Handeln hatte Benning ganz offensichtlich das Leben gerettet, denn in einer Notoperation stellte sich schnell heraus – die inneren Verletzungen waren so stark, dass Benning wohl nach kürzester Zeit innerlich verblutet wäre.
Gerade eine Woche nach dem Vorfall, Benning befand sich immer noch im Krankenhaus, meldet sich ein junger Mann in der Rettungsstelle und fragte nach Mary. Es war Edward (25) Sohn von Pete Benning und Tätowierer aus dem 70 Kilometer entfernten Brighton. Edward bedankte sich für die Rettung seines Vaters und schenkte Mary einen Tattoo-Gutschein, egal was sie sich in welcher Größe auch wünschen würde, er würde es ihr stechen.
Vor genau zwei Monaten hat Mary dann den Gutschein bei Edward eingelöst. Sie wollte lieber etwas Schlichtes, Kleines, aber ein bedeutungsvolles Motiv. Sie hat sich von ihm ein kleines Horus-Symbol auf den Unterarm tätowieren lassen. Das Auge des Horus ist eines der bekanntesten ägyptischen Hieroglyphen. Das Horus-Auge wird auch als Mondauge bezeichnet. Das Zeichen dient als Schutz vor dem Bösen und symbolisiert zugleich Gesundheit und das Leben. Jetzt trägt es auch Mary, voller Stolz und aus tiefer Überzeugung. Das Tattoo ist nun ihr neuer Beschützer und ständiger Begleiter bei den oftmals schwierigen Rettungseinsätzen auf den Straßen der Stadt.
Sein Tattoo erinnert ihn an den Verlust seiner besten Freunde – Die rührende Tattoo-Geschichte von Thomas aus Berlin. Er durchlebte die Hölle auf Erden und sein Tattoo zeigt seinen langen Weg zurück ins Licht.
Da sitze ich zu Hause und schreibe an den Artikeln dieser Ausgabe. Meine Frau ist zum Einkaufen gefahren und meine Tochter sitzt vor dem Fernseher, zwischen den unzähligen Negativ-Meldungen und Nachrichten des Tages, nach einem geeigneten Kinderprogramm und schönen Geschichten suchend. Während wir uns von weich-gespülten Medien vernebeln lassen, scheinen die wirklich wichtigen Geschichten des Lebens gerade an uns Erwachsenen vorüberzuziehen, ohne dass wir sie bemerken. Aber sind es nicht gerade diese Gesichten, die uns dabei helfen, Mut und Hoffnung zu schöpfen, um unser eigenes Schicksal positiv zu gestalten? Dabei müßten wir doch einfach nur zuhören.
Von so einer Geschichte möchte ich euch heute erzählen: Es war an einem Frühlingswochenende im Jahr 2000, Convention Magdeburg, jede Menge Tätowierer und Besucher und eine tolle Stimmung. Ich schlendere durch die vielen Gänge der Halle auf und ab, immer auf der Suche nach geeigneten Momenten für geeignete Fotos. An einem Tattoo-Stand bleibe ich stehen. Hier sitzen ein Tätowierer und sein Kunde eng zusammen, und während der Tätowierer hochkonzentriert am Oberarm des Kunden seine Arbeit verrichtet, laufen dem Kunden etliche Tränen über die Wangen. Auf dem Oberarm ein großer Baum mit vielen kleinen Blättern daran. Der Kunde – ein kräftiger und richtig gut aussehender Typ, auf den viele Männer neidisch wären und Frauen sich die Hälse mehrfach verdrehen würden. Du meine Güte, eine so schmerzhafte Stelle ist der Oberarm doch gar nicht, denke ich noch, während der Tätowierer seine Arbeit beendet und sein Kunde tief durchatmend sein Unterhemd wieder anzieht. Ich frage den Tätowierer, ob das Tattoo denn wirklich so schmerzhaft gewesen sei. Dieser schüttelt leicht den Kopf und erklärte mir, dass dieses Motiv eine ganz besondere Bedeutung habe. Er ermuntert Thomas, so der Name des Kunden, mir ruhig davon zu berichten. Ich setze mich neben ihn, Thomas wischt sich zunächst die Tränen aus dem Gesicht und fängt mit zittriger Stimme an, mir seine Geschichte zu erzählen. „Ich habe in meinem Leben wirklich viel falsch gemacht. Eltern und Freunde enttäuscht, Lehre geschmissen und schnell in ziemlich schlechte Kreise geraten. Ich hatte so viele Träume, wie jeder andere auch. Meine jedoch zerplatzten wie dünne Seifenblasen sehr früh und durch meine eigene Schuld. Erst war es nur just-for-fun, hier ein paar Joints, da ein wenig Koks. Um es kurz zu machen – es dauerte nicht lange und ich hing an der Nadel, spritze Heroin und war ein richtiger Junkie. Das Ganze ging mehrere Jahre so, und während ich wie im freien Fall immer weiter abstürzte, machten mich die Drogen immer mehr kaputt. Du weißt genau, dass das alles ein böses Ende nimmt, doch du kannst nicht aufhören. Es ist, als würdest du im Auto mit 100 Sachen auf eine Wand zurasen, findest aber keine Bremse. Irgendwann kam dann natürlich der Crash, ich landete mit einer Überdosis in der Notaufnahme, Herzstillstand, eine Wochen Koma. Ich überlebte und ich hatte Glück. Ich bekam einen Therapieplatz und nach einiger Zeit ging es auch Stückchen für Stückchen bergauf.“ Thomas wischt sich eine weitere kleine Träne aus dem Gesicht, während ich nach dem Zusammenhang zu seiner Tätowierung frage. „In der Therapie hatten zwei Freunde und ich die Idee mit dem Tattoo. Der ganz persönliche Baum des Lebens. Jedes einzelne Blatt steht dabei für einen weiteren Monat ohne Drogen. Die Ärzte erklärten mir damals, dass nach ca. vier Jahren die Rückfallquote immer geringer werden würde und ich dann das Schlimmste hinter mir hätte.“ Ich schaue mir das Tattoo genauer an. Ein kräftiger Baum, dessen Wurzeln am Ellenbogen beginnen und mit seiner Blätterkrone bis weit über die Schulter reicht. Auf jedem Blatt stehen Zahlen – 2/00, 5/98, 11/99. Jedes Blatt trägt den Monat und das Jahr seines Neuanfangs, so erklärt mir Thomas. Einige Äste sind dabei noch ohne Blätter. „Ich habe heute den dritten Geburtstag meines zweiten Lebens und das Blatt, das ich heute tätowiert bekommen habe, steht für den 36. Monat, für mich ein ganz besonderer Moment. Noch zwölf Blätter – dann kann ich sicher sein, dieses neue Leben auch wirklich bewältigen zu können. Natürlich mache ich mein Schicksal nicht an 48 tätowierten Blättern und einem Baum fest, doch ich schöpfe daraus sehr viel Kraft und Mut.“ Am Fuße der Baumwurzel liegen zwei tätowierte Laub-Blätter, verwelkt und verdorrt. Sie zeigen das Schicksal der beiden Freunde von Thomas, die es nicht schafften und nur ein Jahr nach Therapiebeginn starben. Thomas schaut zu mir auf und blickt mir tief in die Augen. „Jeden einzelnen Tag, wenn ich in den Spiegel schaue, erinnert mich dieses Tattoo an meine Fehler, an den Tod meiner Freunde, aber vor allem an mein neues Leben und an die Aufgaben, die ich noch zu bewältigen habe. Dieses Tattoo hilf mir dabei so sehr. Ich bin mir sicher, dass ich es schaffen werde.“
Und das hat er dann auch. Heute lebt Thomas in Berlin-Tempelhof. Nach Abendschule und nachgeholtem Abschluß, ist er heute erfolgreich im Beruf, glücklich verheiratet und stolzer Vater einer dreijährigen Tochter. Noch heute bekomme ich eine leichte Gänsehaut, wenn ich an diesen Baum des Lebens zurückdenke.
Während ich diese kurze Geschichte beende, laufen im Fernsehen wieder neue Nachrichten. Von Unruhen in Pakistan, Steuererhöhungen und Kriegs-Budgets ist dort die Rede. Eine negative Meldung jagt die nächste. Die wirklich positiven Geschichten finden keinen Platz in den Acht-Uhr-Nachrichten. Ich schalte den Fernseher aus, setze mich zu meiner kleinen Tochter, drücke sie ganz fest an mich und flüstere ihr leise ins Ohr wie sehr ich sie liebe. Dann lausche ich ihren Geschichten, ihren Nachrichten, die sie heute in der Schule und auf dem Spielplatz erlebt hat.