Ein Plastiksternenhimmel hat Marcus aus der Trauer geholt und ihn mit dem Schicksal versöhnt. Er erzählt:
»Ich bin Physiker. Wenn ich die Welt betrachte, sehe ich Logik, Formeln, Zusammenhänge, Kräfte und Gegenkräfte, elektrische Ströme, magnetische Felder und mehr. Die Menschen um mich herum haben mich stets für einen sehr kühlen Mann mit wenig Gefühlen gehalten, und ich habe für die Gefühlsduselei um mich herum tatsächlich nie einen Grund gesehen. Freunde von mir konnten sich in Begeisterung über einen rotglühenden Sonnenuntergang ergehen, wo ich lediglich Schmutzpartikel in der Luft gesehen habe, die den Lichteinfall auf die Weise verändern, dass das weiße Licht so gebrochen wird, dass es rot und orange wird.
Und dann lernte ich Lisa kennen. Lisa war mir im Labor als Assistentin zugeteilt und trieb mich in den Wahnsinn. Sie war begeisterter ScienceFiction Fan und wurde nicht müde, ihre Begeisterung über all die frei erfundenen Geschichten über Aliens, Raumschiffe und ähnliches über mich auszuschütten. Sie war durchaus realistisch und wusste, dass es sich dabei nur um Geschichten handelte, aber sie liebte sie trotzdem.
Auf der einen Seite hätte ich sie am liebsten manchmal mit dem Laborabfall entsorgt, um ihrem Redeschwall zu entgehen, auf der anderen Seite wusste ich, dass sie eine sehr rational denkende Wissenschaftlerin war und irgendwie faszinierte mich ihre geradezu kindliche Begeisterung für den Unfug, mit dem sie sich in ihrer Freizeit beschäftigte.
Irgendwann hat sie mich dazu gebracht, mit ihr ins Kino zu gehen. Dann „zwang“ sie mich, ihr Lieblingsbuch zu lesen, und dann schleppte sie mich mit zu einem Fan Treffen, auf dem ich ihren Freunden begegnete.
Eins kam zum anderen. Bald war ich fast nur noch mit ihr und ihren Freunden unterwegs, und irgendwann fand ich mich in ihrem Bett wieder, umringt von Bücherregalen, die sich von Romanen, DVDs, Raumschiffmodellen und Bildern von irgendwelchen Serien durchbogen, und erlebte die Nacht meines Lebens.
Lisa hatte es geschafft, dass ich meine Logik nicht mehr für ganz so wichtig hielt und erkannte, dass wir es manchmal brauchen, einfach loszulassen und zu träumen. Und sie nahm mich mit auf ihre Traumreisen. In den Geschichten, die sie ersponn, bereisten wir Galaxien und wanderten durch die Zeit, wir retteten unzählige Male unseren Planeten und fremde Zivilisationen, und jede dieser Geschichten machte meine vorher so nüchterne Welt etwas bunter.
Es gab nur eine Sache, die ich nicht mitmachte: Sie wollte, dass wir uns tätowieren lassen. Sie lachte mich aus, als ich entsetzt auf den Gedanken reagierte, aber sie hat nie versucht, mich dazu zu überreden. Ich war durch und durch glücklich. Bis zu dem Tag, als Lisa morgens nicht ins Büro kam. Ich machte mir Sorgen und fuhr nach der Arbeit zu ihr. Ich hatte einen Schlüssel und wartete in ihrer Wohnung, aber sie kam nicht nach Hause.
Sie war nicht mehr da. Ich habe am Abend desselben Tages erfahren, dass sie einen Unfall hatte. Ein angetrunkener Typ war auf die Gegenfahrbahn geraten und frontal in sie hineingefahren. Er war mit ein paar Blessuren davon gekommen. Lisa war tot.
Ich konnte nicht begreifen, dass die Welt sich einfach so weiterdrehte. Ich hätte jeden, der auf der Straße lachte, am liebsten angeschrien, wie unverschämt sein Lachen sei. Ich antwortete nicht auf die Anrufe unserer Bekannten und schloss mich ein. Ich war davon überzeugt, dass mein Leben in irgendeiner Form geendet hatte. Ohne Lisa wollte ich nicht sein. Trotzdem weinte ich nicht.
Irgendwann bekam ich einen Anruf von der Familie, dass ich ein paar Sachen aus Lisas Wohnung abholen solle und machte mich schweren Herzens auf den Weg.
Allein ging ich durch die Räume, in denen ich so oft so unendlich glücklich gewesen war. Irgendwann legte ich mich in unser Bett inmitten ihres Fan-Chaos, sah zu der Decke mit den unsäglichen, kitschigen, fluoreszierenden Plastiksternen hoch und weinte. Endlich konnte ich weinen und war gleichzeitig so unfassbar wütend. All ihre verrückten, wunderbaren Geschichten kamen mir in den Sinn, und plötzlich wurde mir bewusst, dass sie, genau wie ich, gewusst hatte, dass keine Energie im Universum verloren ging. Sie hatte sogar einmal eine Geschichte darum gesponnen. Wir hatten darin ein Alien-Pärchen wieder zusammengeführt, indem wir ihnen die Möglichkeit gegeben hatten, auf einer anderen Energieebene miteinander zu verschmelzen – physikalischer Unfug, aber es war so schön gewesen. Und die Geschichte war auf einem der realen, unumstößlichen Gesetze der Wissenschaft begründet: In unserem Universum geht keine Energie verloren – sie wandelt sich immer nur um. Lisa war Energie gewesen. Pure, bildschöne, lebensfrohe Energie auf alle Arten, die man sich vorstellen kann.
Ich atmete mit einem Ruck tief durch und sah zu den künstlichen, blassgrün schimmernden Sternen hoch. Plötzlich musste ich lachen und weinte dabei gleichzeitig noch mehr. Sie konnte mir ihre Geschichten nicht mehr erzählen, aber sie war noch da – natürlich war sie noch da!!! Wie hatte ich das nur bezweifeln können? Sie hatte sich nur umgewandelt. Sie war um mich herum und hüllte mich ein.
Ihre Familie gestattete mir, das meiste ihrer Fan-Sachen mit zu mir zu nehmen, und ich begann zu schreiben. In jeder freien Minute schrieb ich unsere Geschichten auf und sponn sie weiter, als hätte ich mein ganzes Leben lang nichts anderes getan. Irgenwann war mein erstes Buch fertig und ich begann, aus den Bildern, die Lisa gemalt hatte, einige herauszusuchen, die ich als Illustration verwenden wollte.
Als ich das Bild von dem skurril aussehenden Alien in der Hand hielt, das gerade mit zufriedenem Lächeln in sein Raumschiff transportiert wurde, wusste ich, was ich tun würde. Ich ging in ein Tattoostudio und zeigte das Bild dort. Ich bekam relativ kurzfristig einen Termin und ließ mir das Bild handflächengroß über mein Herz tätowieren.
Als ich das Tattoo hatte, habe ich am selben Abend einen unserer gemeinsamen Freunde angerufen und ihn gefragt, ob ich ihn besuchen darf. Er hat nicht nur ja gesagt, sondern als ich zu ihm kam, waren alle anderen auch da und nahmen mich mit offenen Armen wieder auf …
Ich hab ihnen das Tattoo gezeigt, mit dem ich mein süßes Alien Lisa nun immer bei mir habe. Wir haben zusammen geweint, aber auch furchtbar viel gelacht, und wir waren uns einig, dass eine Urgewalt wie Lisa nicht einfach so geht. Sie ist noch da – in ihren Geschichten, in unserer Erinnerung, in unseren Herzen.
Das Tattoo heilt langsam ab, und mit dem Tattoo heilt nun ganz langsam auch mein Herz.«