„Wir sind die Sänger von Finsterwalde, wir leben und sterben für den Gesang. Daß wir die Sänger sind, das weiß ein jedes Kind, wir leben und sterben für den Gesang.“
Ja ist das geil, oder was? Also, ich meine die erste Strophe des Sängerliedes, für das Finsterwalde u.a. bekanntgeworden ist. Denn wie ich vor meinem Ausflug dorthin erfahren hatte, ist dieses schnuckelige Städtchen an der Niederlausitz auch als die „Sängerstadt“ in die Deutsche Geschichte eingegangen und berühmt für dieses Lied. Während der Zugfahrt dorthin haben sicherlich einige Mitreisende gedacht, daß ich nicht mehr alle Tassen im Schrank hätte. Irgendwie mußte ich die ganze Zeit daran denken, daß bei meiner Ankunft die vier Jungs von „Artcore Ink“ im Trachtenanzug vor ihrem Laden stehen und lauthals dieses Lied anstimmen, was mich wiederum dazu bewog, unkontrolliert zu grinsen oder gar zu lachen. Ohne ein entsprechendes Comic in der Hand zu halten, muß das ziemlich dämlich ausgesehen haben. Und dann die große Enttäuschung, nachdem mich Kevin vom Bahnhof abgeholt hatte und wir am Studio ankamen: Nix, aber auch rein gar nix! Nicht einmal die kleinste Melodie kam über ihre Lippen, von den Trachtenanzügen mal ganz zu schweigen.
Aber es soll hier ja auch gar nicht um die Sänger von Finsterwalde gehen, sondern um „Artcore Ink“ und die vier Tätowierer, die dort arbeiten. Und da war ich auch bereits bei der ersten Frage angelangt, die mich schon seit längerer Zeit bewegte: Finsterwalde hat ja gerade mal so um die 20.000 Einwohner, und jeder weiß, daß es mittlerweile einen doch recht harten Wettbewerb in der Branche gibt. Wie kann dann also ein Studio mit gleich vier Tätowierern in so einem kleinen Örtchen überleben? Und wieso sind die meisten Sachen, die ich von den Leuten bisher gesehen hatte, bei so wenigen Einwohnern so innovativ? Kevin hatte während der Fahrt zum Studio auch gleich die passende Antwort für mich parat: „Die Leute hier in Finsterwalde und Umgebung sind wahrscheinlich alle ein wenig verrückter als anderswo. Selbst neue Kunden wollen in der Regel kein Tribal oder sowas von uns haben. Die kommen oft direkt schon mit abgefahrenen Ideen in den Laden, die wir dann nur noch umsetzen müssen.“ Mmhh, diese Antwort hatte mich erst recht neugierig gemacht. Im Studio angekommen, mußte ich dann erstmal feststellen, daß bis auf Kevin, der an diesem Tag frei hatte, alle anderen reichlich zu tun hatten. Ich hatte also noch recht viel Zeit, um die Fotomappen der Vier zu studieren. Was mir während dieser Zeit besonders auffiel, war, daß dort ein ständiges Treiben herrschte. Andauernd liefen Leute rein und wieder raus. Herzliche Begrüßung hier, Küßchen da, ein Schwätzchen mit dem, der gerade nicht im hinteren Teil des Studios arbeiten mußte, und wieder Tschüß. Die ganze Zeit! Lutz bemerkte wohl meine Verwunderung und beantwortete meine Frage, noch bevor ich sie überhaupt stellen konnte: „Das ist hier immer so, Arno. Unsere Kunden sind nicht einfach nur Kunden. Wir sind sowas wie eine riesige Familie geworden. Die meisten Leute, die einmal bei uns waren, schauen immer wieder mal bei uns rein. Einfach so, nicht weil sie etwas haben möchten. Das ist hier ganz normal.“ Nach dem Tag, den ich dort verlebt habe, gibt es für mich auch keine Zweifel an der Richtigkeit seiner Aussage. Um die freundliche und offene Atmosphäre im Studio kann man „Artcore Ink“ schon fast beneiden. Aber das hängt sicher auch ein wenig mit der Geschichte des Studios zusammen. Schließlich wurde „Artcore Ink“ vor ca. fünf Jahren auch aus reiner Freundschaft gegründet. Ich will jetzt nicht zu weit ausholen, aber Fakt ist: Irgendwann hatte es die beiden Freunde Lutz und Matthias (Matze) nach Finsterwalde verschlagen. Vorher hatten sie bereits in Calau zusammen in einer Wohnung tätowiert (Lutz) und gepierct (Matze). In Finsterwalde trennten sich ihre Wege allerdings erst mal wieder. Matze eröffnete ein kleines Piercing-Studio in einem Klamottenladen, und Lutz, bereits bekannt für seine hervorragenden Arbeiten, tingelte mehr oder weniger von Haus zu Haus. Lutz: „Das war schon eine recht geile Zeit. Man hat halt einfach gelebt. Ohne große Verpflichtungen.“ Doch wie der Zufall so wollte, hatte ausgerechnet Kevin, auch ein Freund von Lutz und der dritte Tätowierer im Bunde, in genau demselben Klamottenladen gearbeitet, wo auch Matze sein kleines Reich hatte. Und so schließt sich der Kreis. Lutz und Matze haben sich wieder vertragen und kurz darauf „Artcore Ink“ gegründet, und Kevin hatte von den Klamotten wohl auch die Nase voll und fing erstmal als „Shop Guy“ bei den Beiden an. Der einzige, der nicht gleich von Anfang an mit von der Partie war, ist Sebastian. Der kam eigentlich nur in den Laden, um seine Vorlagen zu verkaufen, hat sich aber gleich mit den anderen angefreundet und ist dort einfach hängen geblieben. Aber erstmal wieder einen Schritt zurück: Nach der Eröffnung sollte es nicht lange dauern, bis der Kundenandrang so groß war, daß Lutz die Arbeit als einziger Tätowierer kaum noch bewältigen konnte, und so brachte er zuerst Matze und danach auch Kevin die Kunst bei. Das Talent dazu scheint den beiden allerdings bereits vorher in die Wiege gelegt worden zu sein. Aber was soll ich dazu groß schreiben, das seht ihr hier ja selbst. Und als letztes Mitglied stieß schließlich Sebastian hinzu, der nicht locker ließ, bis Lutz und Matze auch ihn unter ihre Fittiche nahmen. Von einem bestimmten Stil bei „Artcore Ink“ zu sprechen, ist natürlich bei vier Tätowierern relativ schwer, selbst dann, wenn im Grunde alle bei Lutz gelernt haben. Ich versuche es mal kurz und bündig der Reihe nach:
Lutz: Mein absolutes Sorgenkind (was meine Einschätzung betrifft). Ich mag es eigentlich nicht, jemanden nur als Allrounder zu bezeichnen. Das hört sich immer so komisch an. Irgendeinen Schwerpunkt muß man doch haben. Aber je mehr ich suche, umso mehr muß ich mir eingestehen, daß es in seinem Fall einfach zutrifft. Einerseits finde ich seine realistischen Arbeiten wie Portraits außerordentlich gelungen. Und wenn ich mir jetzt noch die Frechheit herausnehme und Biomechanisches in dieselbe Kategorie packe (von der Machart her ist es ja gar nicht so weit hergeholt), würde es schon passen. Aber da sind ja noch diese saugeilen Old/NewSchool Sachen, die keineswegs schlechter sind. Und das paßt ja wiederum nicht zusammen. Dann noch Fraktales a la Guy Aitchison usw. Nee, Lutz, du machst es einem wirklich nicht leicht. Bist halt doch Allrounder, Punkt, aus, Ende.
Matze: Er macht mir die Sache zumindest schon ein wenig einfacher. Vor ca. fünf Jahren bekam er von seinem Geschäftspartner Lutz die Grundkenntnisse des Tätowierhandwerks beigebracht, wobei weitere Einflüsse auch von seinen bisherigen Tätowierern stammen. Sein Stil besteht auf der einen Seite aus farbenprächtigen NewSchool-Varianten westlicher und asiatischer Traditionals. Andererseits entwickelt er in letzter Zeit aber auch Tätowierungen, die an Collagen aus filigranen, graphischen Elementen a la Derek Hess und Angry-Blue Art erinnern.
Kevin: Der Tiefstapler. Eigentlich hatte mir Kevin anfangs erzählt, er wäre eher für die kleinen Sachen und Tribals zuständig. Auf den Fotos, die er mir daraufhin mitgab, war aber komischerweise weder ein Tribal noch eine „kleine Sache“ zu sehen. Das ging dann doch schon mehr in die Richtung zu realistischen Schwarz/Grau-Arbeiten und Portraits. Und bei einem halben Rücken z.B. kann man ja nun wirklich nicht mehr von einer kleinen Tätowierung sprechen, oder?
Sebastian: Über Sebastian brauche ich ja nichts mehr zu schreiben. Schließlich habe ich ihn bereits in Ausgabe 20 als Newcomer ausgiebig vorgestellt. Er ist zur Zeit sicherlich einer der Überflieger in der Deutschen Tattoo-Szene. Die Reaktionen auf seinen Bericht waren jedenfalls unglaublich. Sebastian teilt sich seinen Arbeitsplatz übrigens mit Kevin und ist deshalb nur jede zweite Woche bei „Artcore Ink“. In der anderen Zeit arbeitet er mittlerweile bei „Tatau Obscur“ in Berlin, einem weiteren Top-Studio. Hat man da noch Fragen?
Mein Besuch bei „Artcore Ink“ war wirklich klasse. Daß sie super Arbeiten abliefern, wußte ich ja schon vorher. Von der Atmosphäre im Studio war ich dann allerdings doch sehr positiv überrascht, und es wundert mich keineswegs, daß die Kunden immer wieder gern hierherkommen, auch wenn es nur darum geht, mal kurz „Hallo“ zu sagen. Im August findet wieder das alljährliche Sängerfest in Finsterwalde statt, und ich hoffe, daß ich dann die Zeit haben werde, wieder dorthin zu fahren und mit den Leuten zu feiern. Aber zum Schluß noch ein richtig guter Tip für alle, die jetzt Appetit bekommen haben: Wenn ihr einen Termin bei „Artcore Ink“ haben möchtet, versucht irgendwie, den Freitag mit einzuplanen. Dort gibt es ein Restaurant (Goldener Hahn), dessen Küche schon etliche Male international prämiert wurde. Ist natürlich auch nicht ganz so billig. Am Freitag gibt es dort allerdings so eine Art Kennenlern-Menü mit drei Gängen für 15,- EUR. Also bei mir waren es fünf, und es hat unglaublich gut geschmeckt. Guten Appetit!