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STUDIO-PORTRAIT

Sean Herman – USA

Das Studio All Or Nothing gilt als eines der besten Studios überhaupt. Zwei der dort arbeitenden Künstler haben wir euch schon vorgestellt. Mit Tätowierer Sean Herman setzten wir diese Serie fort. Vor seiner Farbkarriere war Sean Priester, aber er tauschte das Gebetbuch gegen die Tätowiermaschine, weil er in der Religion zuwenige Antworten auf zu viele Fragen fand. Ob er diese in der Welt der Tattoos und der Kunst finden konnte lest ihr hier:

Martin: Je länger ich deine Arbeiten betrachte, desto mehr erkenne ich, dass deine Tattoos sich sehr oft nicht nur mit Leben und Tod, sondern auch mit religiösen Szene befassen und nachdem ich auf deiner Homepage gelesen habe, dass du früher im Priesteramt tätig warst, wurden für mich einige Dinge klarer. Also, wow, das muß ein interessanter Weg, vom Priester zum Tätowierer, gewesen sein?
Sean: Das ist schon komisch, denn manchmal sind diese beiden Berufungen gar nicht so verschieden. Die Leute sind aber immer sehr erstaunt und ich denke, es liegt an ihrer strickten Trennung von Gut und Böse, dem guten Priester und dem bösen Tätowierer. Das ist es, woran die Leute so lange geglaubt haben und warum sie dann von mir ein wenig überrascht sind. So gesehen bin ich aber auch nicht der „typische“ Tätowierer. Ich trinke nicht, rauche nicht, nehme keine Drogen und kümmere mich nicht so sehr um Parties. Ich liebe die Kunst und das Leben und das ist etwas, dass ich durch meine Tattoos reflektieren möchte. Der Künstler Carravagio ist dabei meine größte Inspirations-Quelle. Ich möchte Kunst erschaffen, die Menschen dazu veranlaßt, zu reagieren und etwas zu empfinden. Dieses Gefühl kann von Liebe bis zu Horror variieren, von Lust bis Ekel. Hauptsache, sie empfinden etwas. Für mich sind dies Dinge, bei der es in der Kunst überhaupt geht, uns selbst immer wieder daran zu erinnern, dass wir leben und fühlen. Darum hatte ich mich früher, als ich noch jünger war, mit Religion beschäftigt, um die Menschen fühlen zu lassen, sie an das Leben zu erinnern. Heute gehe ich einen anderen Weg, außerhalb des Priesteramtes. Man könnte sagen, die Kunst selbst ist zu meiner Religion geworden.

Martin: Aus deiner Sicht, wie hat das Tätowieren dein eigenes Leben verändert?
Sean: Es hat mir vor allem eine gewisse Freiheit gegeben. Auf meinen Fingerknöcheln steht „Lebe frei!“ Das ist mein Motto, das Leben selbst in all seinen Facetten zu er-leben. Es gibt meiner Meinung nach keinen anderen Job, in dem du so viel reisen und die Welt sehen kannst und dabei unentwegt Kunst produzierst. Gleichzeitig ist Stress ein großer Faktor, der mich schon oftmals begleitet hat. Ich hatte Rückschläge, aus denen ich aber immer gelernt habe. Darüber hinaus habe ich aber große Ziele. Ich kann es kaum erwarten irgendwann einmal auf irgendeiner Insel, bei Griechenland zum Beispiel, zu tätowieren, während ich auf ein weites Meer hinausblicke. Das ist das ultimative große Ziel, Freiheit.
Martin: Leuchtende Farben und weiche Schattierungen. Man kann sie in fast jeder deiner Arbeiten finden und es scheint als liebtest du das Spiel mit unterschiedlichen Lichtarten. Benutzt du dies um deinen ganz persönlichen Stil zu erreichen? Aus welchen Komponenten besteht ein Sean Hermann Tattoo?
Sean: Wow, schön zu sehen, das jemand verschiedene Details erkennt, die sich als feste Konstante durch meine Arbeiten ziehen. Ich würde auf jeden Fall sagen, dass meine Farbspektren und Lichtquellen einen großen Teil meiner Tätowierungen ausmachen. Ich möchte Drama und Emotionen erzeugen. Ich habe in jungen Jahren im Theater gespielt und dabei geliebt, wie Licht und Make-Up eine Stimmung erzeugten, ohne dass einer der Schauspieler auch nur ein Wort sagen mußte. Ich erinnere mich noch, wie ich einmal in einer Vorstellung saß und von dieser durch Licht und Farben erzeugten Stimmung regelrecht gefangen war. Am Ende der Vorstellung erkannte ich, dass diese Scheinwelt, in die ich hinabtauchte, nicht real war, ich mich aber dennoch sehr wohl in ihr gefühlt hatte. Das ist es, worum es mir bei meiner Arbeit geht, den Leuten nicht einfach nur ein Tattoo zu geben, sondern eine andere Welt, in die sie sich verlieren und zurückziehen können.
Martin: Eine Frage brennt mir ganz besonders unter den Fingernägeln. Obwohl deine Tattoos sich mit Tod und Schmerz beschäftigen, so sind sie dennoch nicht schockierend. Sie alle haben einen Hauch von Schönheit, sei es in lieblichen Augen, einem zarten Lächeln oder sogar in einer romantischen Stimmung. Ist dies die Welt, wie du sie siehst und interpretierst, und glaubst du daran, dass selbst im Bösen immer etwas Schönes schlummert?

Sean: Wie bei deiner Frage zuvor, finde ich es toll, dass jemand so viele Details meiner Arbeiten erkennt, dankeschön. Ich persönlich mag die Idee einer Dualität, die Idee der Religion, dass Luzifer der „Engel des Lichts“ war. Ich glaube nicht an Schwarz oder Weiß, denn das Leben spielt sich irgendwo im Grau dazwischen ab. Was ist gut und was ist böse? Ich möchte in meinen Arbeiten eine Welt erschaffen, in der beide so austauschbar sind, dass im Grunde keines wirklich existiert. Ich denke, dass die Schönheit obsiegt. Selbst in einer bedrohlich aussehenden Frau oder dem abnormalen Untoten möchte ich ein klein wenig Schönheit zeigen.
Martin: Collaboration Tattoos (engl. collaborating = zusammenarbeiten), sind ja Motive, die von zwei Künstlern gleichzeitig auf einem Kunden gestochen werden. Diese Tattoos werden im AON sehr häufig präsentiert, wobei sie in Europa noch nahezu unbekannt sind. „Hey, sieh nur, der erste Kunde an diesem Morgen. Los, laß uns einen Flotten-Dreier veranstalten“! Ok, das wird ja wohl nicht unbedingt der Weg sein, wie solch ein Collaboration Tattoo entsteht. Wie aber erweckt ihr solche Ideen zum Leben?
Sean: Normalerweise entstehen sie in der Zusammenarbeit mit dem Künstler, der mit mir gemeinsam das Tattoo sticht. Mit Josh Woods habe ich schon viele davon kreiert. Wir folgen einem gewissen Konzept, arbeiten es zusammen aus und finden eigentlich sehr leicht einen interessierten Kunden dafür. Oft ist es auch so, dass der Kunde selbst ein Collaboration Tattoo wünscht und sich zwei ganz spezielle Tätowierer dafür ausgesucht hat. Das Lustige ist doch, dass ich normalerweise mit meinen Tattoo-Vorlagen zu verschiedenen Kollegen in den Shop gehe und sie nach ihrer Meinung frage, was sie vielleicht verändern oder verbessern würden. So gesehen, sind eigentlich alle meine Arbeiten rein technisch gesehen, Collaboration Tattoos.
Martin: Eine Frage, die ich vor einiger Zeit schon einmal deinem Freund Brandon Bond gestellt hatte: Wenn es dir erlaubt wäre, nur noch ein einziges Tattoo in deinem ganzen Leben zu stechen, was wäre es für ein Motiv?

Sean: Das ist eine interessante Frage. Ein einziges Tattoo? Mal sehen, wenn es nur ein einziges wäre, müßte es natürlich groß sein. Ich würde wollen, dass es sowohl emotional als auch sehr dunkel wäre, definitiv eine menschliche Figur, höchstwahrscheinlich weiblich. Ich würde einen Kampf verschiedener Elemente zeigen wollen. Also wäre es wahrscheinlich eine Frau, die kämpfend aus dem Dunkeln kommt. Eine Motiv-Idee also vom Überwinden aller Hindernisse, bis hin zu fast mystischen Proportionen.
Martin: Wir haben schon so oft gehört, dass ein Tätowierer zu sein, nicht sonderlich viel zu tun hat, mit einem „normalen“ Job, sondern vielmehr mit einer ganz besonderen Lebenseinstellung. Wir lesen immerzu von der Leidenschaft, die notwendig ist, um ein Tattoo-Künstler zu werden, dass es keinen leichten Weg dorthin gibt und dass dieser mit viel Verzicht und Verlust gepflastert ist. Für dich, was waren in deiner Laufbahn der schwierigste und der schönste Moment?

Sean: Damit beschäftige ich mich aktuell sehr oft. Meine Arbeit kann extrem stressig sein. Neben dem ganz normalen Studiowahnsinn gibt es noch die Arbeiten im Internet, Messen, verschiedene Projekte und vieles mehr. Manchmal bleibt dann kaum noch Raum zum Atmen. Für mein jetziges Leben habe ich sehr viel aufgeben müssen, doch noch viel mehr hinzugewonnen. Aber egal wie anstrengend mancher Tag auch sein mag, ich möchte keinen anderen Beruf haben. Es gibt kaum etwas schöneres, als einen zufriedenen Kunden. Ich habe vor kurzem ein Portrait gestochen. Der Bruder des Kunden war vor ein paar Monaten gestorben und er hatte dieses Foto von ihm. Es war sehr klein und unscharf, aber es war alles was er hatte. Also habe ich mich an die Arbeit gemacht. Es war wirklich sehr schwer, ein Farbportrait mit einem kleinen unscharfen Foto als Vorlage. Als ich fertig war, stand er auf und ging zum Spiegel um sich das Ergebnis anzusehen. Er war total still und ich konnte sein Gesicht im Spiegel nicht sehen, daher auch nicht seine erste Reaktion erkennen. Als er sich zu mir umdrehte, hatte er Tränen in den Augen und sagte: „Es sieht genau so aus wie er, ich danke dir so sehr, es ist perfekt.“ Darum bin ich so gerne Tätowierer, um die Möglichkeit zu haben, jemandem etwas zu geben, das ihn für den Rest seines Lebens begleitet und ihn immer an etwas Schönes erinnert. Menschen mit der eigenen Arbeit derart emotional zu berühren ist etwas wirklich Einmaliges.
Martin: Für mich persönlich und auch für viele Leser des Magazins, ist meine letzte Frage auch gleichzeitig die Wichtigste, daher habe ich sie mir auch für den Schluß aufbewahrt. Ich hoffe dabei, dass du genügend Einfluß auf deine Kollegen wie Brandon, Dave, Josh und all die anderen des großen AON Teams, hast: Wann packt ihr endlich eure sieben Sachen und kommt für einen Besuch nach Europa? Worauf wartet ihr eigentlich?

Sean: Wenn es nach mir ginge, wäre ich heute schon dort. Die Geschichte und die ganze Umgebung im Ganzen sind einfach wunderschön und sehr interessant. Ich wollte schon seit der College-Zeit nach Europa, habe es aber bis jetzt nie geschafft. Josh Woods und ich planen aber für das kommende Jahr eine Tour. Eine Freundin, Jo Harrison arbeitet in England und wir wollen sie und ein paar Freunde besuchen. Wenn ich also komme, wer weiß, vielleicht gehe ich ja gar nicht mehr zurück.

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